In Auflösung begriffen

Alles, was du anfängst, scheint dir wie feiner Sand durch die Finger zu rinnen. Dein Leben ist ein Wirbelsturm, und du stehst im windstillen Auge, wie betäubt und unfähig zu handeln angesichts der rohen Gewalt um dich herum, und so lässt du dich treiben auf dem Weg, den dir der Sturm vorgibt. Ein Tag ist wie der andere, und eine Woche zerfließt in die nächste, und die Zeit gleitet dir mit den Trümmern deines Lebens aus den Händen. Was hat dich so gebrochen?

Du willst nicht über die Kämpfe reden, die in dir toben. Du warst schon immer schweigsam. Wenn andere reden, hörst du zu, und es genügt dir. Doch dein Blick verrät dich. Ich sehe, wie es dich zerreißt. Du würdest liebend gern alles herausschreien, die ganzen hässlichen Dinge, die du in dich hineinfrisst und in die dunkelsten Ecken deines Geistes drängst, wo sie ungesehen ihr Dasein fristen und alles in ihrer Nähe vergiften. Alles würdest du herausschreien, doch du hast Angst davor, was die Welt sagen würde, wenn sie dein wahres Ich kennen würde. Also bleibst du stumm.

Du bist ein Scheinwerfer für dein Umfeld. Du würdest alles dafür tun, andere Menschen ins rechte Licht zu rücken. Doch je heller du strahlst, desto weniger sieht man dich selbst.

Du hältst dich für einen schlechten Freund. Du sagst, du zeigst zu wenig Interesse am täglichen Leben deiner Liebsten, doch du wolltest niemanden stören, oder schlimmer, als zu neugierig abgestempelt werden. Doch sie würden wissen, was es dir bedeutet, könnten sie nur fühlen, wie oft du im Stillen an sie denkst. Sie feiern ihre Meilensteine, und du feierst mit und freust dich über jeden einzelnen. Doch ich sehe, wie deine Fassade bröckelt. Du bist müde, anderer Menschen Erfolge zu feiern und selbst nichts dergleichen erleben zu dürfen, als unbeteiligter Dritter am großen Spiel des Lebens teilzunehmen.

Es tut mir weh, dich so zu sehen. Ich frage dich, wie es dir geht, und du sagst “gut”, und wir wissen beide, dass das gelogen ist, doch wir belassen es dabei. So viele Dinge bleiben ungesagt. Ich merke, wie das Licht in deinen Augen schwächer wird. Du kommst mir oft müde vor und du bist mürrischer als gewöhnlich. Ich stelle mir manchmal vor, wie zwei Herzen in deiner Brust schlagen: ein großes gütiges, und ein verkrüppeltes schwarzes, das deinen Blick verdunkelt und dich in einen Schleier aus Traurigkeit hüllt.

Der Schleier ist Normalität geworden. Er separiert dich von der Welt, bringt dich fort, weit fort an einen Ort, an den ich dir nicht folgen kann. Du bist in Auflösung begriffen.

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