Über die Einsamkeit
John Steinbeck lässt in seinem Roman Jenseits von Eden Lee, den aus China stammenden Diener Adam Trasks, zu seinem Herren sagen: “Bitte versuchen Sie mich nicht unbedingt zu brauchen. Das ist der ärgste Köder für einen einsamen Menschen.” Lee hatte gerade den Wunsch geäußert, aus seiner Anstellung entlassen zu werden, um sich seinen lange gehegten Traum zu erfüllen, nämlich einen eigenen Buchladen im Chinesenviertel in San Francisco. Er befürchtete, Adam könnte ihn von seinem Vorhaben abbringen, indem er ihm gestand, wie sehr er auf die Anwesenheit seines langjährigen Dieners angewiesen sei. Das wäre der Köder, und, einmal ausgeworfen, könnte Lee aufgrund seiner Natur gar nicht anders, als danach zu greifen. Das Gefühl, gebraucht zu werden, im Tausch gegen die eigenen Träume.
Ist das nicht der Kern der Einsamkeit? Ein Mensch, der alles hat, was es zum Leben braucht, dessen grundlegendste Bedürfnisse nach Essen und einem Dach über dem Kopf gedeckt sind, ein Mensch also, dem es augenscheinlich gut geht, und der sich dennoch verzehrt nach einem kleinen Krümel jener Zuneigung, die existenzieller Natur ist. Träume stellt dieser Menschen hintan, denn er hat viele, in denen er in den ruhigen Minuten, im Übergang zwischen Wachen und Schlafen, schwelgt, wohl wissend, dass er alles hingeben würde für ein klein wenig Aufmerksamkeit, die das Loch in seinem Innersten füllte. Wie unangenehm treffend hat Steinbeck das in zwei kurzen Sätzen kondensiert.
Glücklich sind die Menschen, die in Lee keine Spur ihrer Selbst erkennen können! Jenseits von Eden zieht viel aus biblischer Geschichte und spielt mit mehr oder weniger klischeehafter Symbolik. Der belesene Diener, der seinem Herren den Weg zu geistiger Reife weist, ist natürlich Chinese, ein Volk, das man gemeinhin mit alter, spiritueller Weisheit und einer Beherrschtheit des Gemüts assoziiert. Doch abseits aller Symbolik beschreibt Steinbeck in Lee einen Typus Mensch, der in allen Zeitaltern und allen Völkern präsent ist: dessen Leben sich nicht in der Welt, sondern in seinem Kopf abspielt, der in Gesellschaft seiner Vorstellungen verweilt und verzweifelt nach menschlicher Zuneigung sucht, die ihn für einen Moment aus dem immerwährenden Strom seiner Gedanken befreit.
Die Pointe der Geschichte? Lee ging tatsächlich weg, nur um bald wieder auf die Trasksche Farm zurückzukehren, mit nichts in der Hand als seinem Koffer und dem zu Asche zerfallenen Traum seines Buchladens. Nicht, weil es mit dem Buchladen nicht geklappt hätte (er hatte es nicht einmal versucht), sondern weil eine tiefe Einsamkeit ihn zurück an den Ort trieb, an dem er gebraucht wurde. Auf der Farm würde er seine Träume begraben müssen, doch wenigstens konnte er sich einbilden, an diesem Grab nicht alleine trauern zu müssen.
Beim Schreiben dieser Zeilen hielt ich mehrmals inne und fragte mich, ob ich eigentlich noch über Lee oder schon über mich selbst schrieb. Die Wahrheit ist wohl, dass ich in Lee einen Seelenverwandten erkenne. Die Vorstellung, irgendwo das letzte, fehlende Puzzlestück in einem sonst vollständigen Bild zu sein, lässt uns alle anderen Bedürfnisse und Wünsche in den Wind schlagen, selbst unter der Gewissheit, ein ganz und gar selbstbestimmtes Leben an den Nagel zu hängen. Und doch ist es die Entdeckung dieser miteinander geteilten Einsamkeit, die eben jene lindert, sieht man doch, dass es Andere gibt, die genau die gleichen Gefühle empfinden.
Lee schließt den Bericht über seine gescheiterte Flucht in die Welt mit den Worten: “Ich bin unvergleichlich, unglaublich, überwältigend froh, daß ich daheim bin. Nie in meinem Leben fühlte ich mich so gottverdammt einsam.” Glücklich ist, wer ein solches Zuhause sein Eigen nennen kann.