Ein Tag im November

Der Klang der Glocken hängt über dem Friedhof wie dichter Nebel an einem kalten Herbstabend. Dicht an dicht stehen die Menschen an den Gräbern, von einem Fuß auf den anderen tretend, um die vom beißenden Wind steif gewordenen Gliedmaßen zu lockern. So viel Besuch gibt es hier normalerweise nicht, doch an Allerheiligen kommen sie alle: die Gläubigen, die Nichtgläubigen, die Ostern-Pfingsten-Heilig-Abend-Kirchgänger. Alle kommen sie von nah und fern, um an diesem einen Nachmittag im November die letzte Ruhestätte der verstorbenen Angehörigen zu besuchen. Dem Ritual fernzubleiben ist keine Option: was sollen nur die alten Nachbarn denken?

Ich stehe an dem Grab, in dem mein Großvater vor knapp zwei Jahren beerdigt wurde. Auch seine Eltern und Geschwister liegen hier, doch die habe ich nie kennengelernt. Das Grab ist schön hergerichtet - meine Großmutter hat das besorgt. Auch der alte Enzian ist da. Der Bruder meines Großvaters hatte ihn vor vielen Jahren aus den Alpen mitgebracht, kurz bevor er bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Seitdem schmückte der Enzian sein Grab, und bevor der Bestatter vor zwei Jahren die Erde aushob, stachen wir die Pflanze aus und nahmen sie mit nach Hause, damit sie wiederum das Grab meines Großvaters schmücken konnte.

Der Pfarrer verliest die Namen der seit dem letzten Allerheiligentag Verstorbenen. Je älter man wird, desto mehr dieser Namen kennt man, kannte vielleicht sogar den Mensch dahinter. Viele kenne ich nicht, doch jeder dieser Namen und Grabsteine steht für ein Leben, gelebt über wenige oder viele Jahre, mit Geschichten und Erinnerungen, die alle in einem bestimmten Haufen Erde in einem bestimmten Friedhof ihr Ende finden. Wie haben diese Menschen gelebt? Was war ihr Lebensinhalt? Was war für sie der Sinn ihres Daseins, und was bleibt von einem Leben, das sich auf dem ewigen Zeitstrahl nur noch im Bereich der Vergangenheit bewegt?


Die Frage nach dem Sinn ist so alt wie die Menschheit selbst. Seit es Menschen gibt, fragen sie sich, was ihr Leben zu bedeuten hat. Und diese Frage wird immer drängender. Je weiter wir mit Teleskopen in den Himmel (und damit in die Vergangenheit) blicken, je weiter wir Raumsonden in die schwarze Leere des Alls schicken, je weiter wir mit Hilfe von physikalischen Gesetzen in die Zukunft blicken, desto kleiner und unbedeutender scheint unser eigenes Leben. Was sind schon - wenn es gut läuft - 80 Jahre auf der Bühne dieses unvorstellbaren kosmischen Theaters?

Man könnte daran verzweifeln, wenn nicht unser Gehirn außerstande wäre, in solchen Dimensionen zu denken. Laut aktuellem Stand der Wissenschaft wird das Alter des Universums auf 13,7 Milliarden Jahre beziffert. Doch das heißt nichts. Es könnte auch 13,7 Billionen Jahre alt sein, dem danach fragenden Menschen erschiene eines wie das andere. Die Schöpfung konfrontiert ihn mit Größenordnungen, die sein Verstand nicht fassen kann. Vielleicht ist es besser so.


Der Gedanke, dass man den Großteil seines Lebens mit Arbeit zubringt, nur um Geld zu verdienen, das man wiederum nur benötigt, um zu leben, kam mir immer schon absurd vor. Welchen Sinn konnte es denn haben, im Hamsterrad der Moderne Tag für Tag zu laufen nur um des Laufens willen? Meist ließ sich diese Frage recht einfach beiseiteschieben. Doch dann kam der dreißigste Geburtstag, um mit ihm ein Etwas zwischen Quarterlife und Midlife Crisis, das mir schonungslos den Spiegel vorhielt und mir nicht mehr von der Seite wich. Den Rest kann man sich denken.

So kommt es also, dass mich die Frage nach dem Sinn seit geraumer Zeit beschäftigt. Meiner Meinung nach gibt es auch keine wichtigere Frage, die man sich stellen könnte. Was nützen all die Jahre, wenn sie nicht auf ein universelles Ziel gerichtet wären? Doch sind sie das auch?

Schlauere Menschen als ich haben sich darüber die Köpfe zerbrochen. Es gibt viele Versuche, dem Leben einen genau definierten Sinn zuzusprechen, doch am einleuchtendsten erscheint mir ein anderer Gedanke: es hat schlicht keinen. Man wird geboren, man lebt, man stirbt. Alles, was man erschafft, wird zugrunde gehen, wie auch der Körper zugrunde geht. Im Kontext unseres unermesslichen Universums vergeht ein Menschenleben innerhalb eines Wimpernschlags, und am Ende bleibt nichts. Wo ist da der Sinn, und warum weiter danach fragen? Kann es nicht auch ein glückliches Leben vor dem Hintegrund eines sinnlosen Universums geben?

Albert Camus schließt seine Abhandlung über Sisyphos, der von den Göttern in alle Ewigkeit dazu verdammt ist, einen Stein immer und immer wieder einen Berg hochzurollen, mit dem folgenden Gedanken:

Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos

Wenn Sisyphos Glück empfinden kann, dann können es die Menschen ebenso. Auch ohne einen Sinn.


Die Stille der Andacht weicht dem hektischen Treiben der Menschen, die, als würde der sprichwörtliche Hund den letzten beißen, eilig aus dem Friedhof strömen. Ich verweile noch ein wenig an dem Grab. Die Sonne meint es gut mit mir, und ich spüre ihre warmen Strahlen auf meinem Gesicht. Kann es denn angehen, dass ein Friedhof zu einem wohligen Ort wird?

Der Marmor der Grabsteine glitzert im hellen Licht. In Reih und Glied stehen sie da, stille Zeugen vergangener Leben. Gerne hätte ich ihre Geschichten gehört, oder ihre Antworten auf die Sinnfrage. Ich bin immer noch der Meinung, dass diese die wichtigste aller Fragen ist, auch wenn meine Anwort darauf eher nüchtern ausfällt. Und doch wäre ich nur zu gerne bereit, mich eines Besseren belehren zu lassen, denn mir scheint, die Vorstellung eines klaren Sinns wäre dem Menschen wie eine Stimme, welche die Einsamkeit der Finsternis durchbricht und spricht: “ich bin hier.”