Brief an Emily

Liebe Emily,

erinnerst du dich noch an mich? Ich erinnere mich gut an dich, doch könnte ich es dir nicht verdenken, wenn du es nicht tätest. Es ist schließlich lange her. Mehr als ein Jahrzehnt, um genau zu sein. Ein Jahrzehnt und die definierenden Zwanziger.

Du kamst mir ganz plötzlich in den Sinn, wie man vor dem ersten Blitz eines Gewitters erschrickt, das sich unbemerkt hinter dem Rücken zusammengebraut hat. Wenn ich es mir recht überlege, dann passt die Gewittermetapher auch auf das Ende dieser Zeit vor so vielen Jahren. Es kündigte sich an, und als es sich kurz und heftig entlud, hinterließ es sichtbare Spuren der Verwüstung. Es war schnell vorbei, doch die grauen Wolken verdunkelten lange noch den Himmel.

Die Art und Weise, wie wir auseinandergingen, hat mich tief getroffen und verletzt. Doch heute kann ich verstehen, warum du so handeltest. Ich heiße es nicht gut, und es machte mich traurig, nur daran zu denken, doch ich kann dir keinen Vorwurf machen und gleichzeitig mich selbst vollkommen aus der Gleichung entfernen. Man sagt: “es gehören immer zwei dazu”. Ich kann diesem Sprichwort nichts abgewinnen, denn es dient meist nur dazu, die eigene Verantwortung auf anderer Leute Schultern abzuladen. In diesem Fall jedoch muss ich eingestehen: es gehören zwei dazu.

Ich liebte nicht dich. Ich liebte das Bild von dir, das ich mir in meinem Innersten erschaffen hatte, wie ein Töpfer, der seine Skulpturen nicht nach der Realität, sondern nach seinen eigenen Vorstellungen gestaltet. Du warst nicht das Bild und das Bild war nicht du. Dein Verhalten war mir unverständlich, denn es passte nicht zu dem Bild. Es passte nicht, und so stürzte für mich eine Welt zusammen, und die anschließende Leere wurde von Wut und Hass gefüllt. Das Bild hätte anders gehandelt, doch du bist kein Bild, sondern ein Mensch, und ich kann deinem Verhalten viel Wahres und Unwahres andichten, doch im Kern war es: zutiefst menschlich.

Ich hasse dich nicht, und die Wut ist verflogen. Denke ich an die Zeit zurück, dann empfinde ich vor allem Scham darüber, dass ich, in blinder Obsession, dir keinen Weg ließ, mir auf menschlicher Ebene, Auge in Auge und ebenbürtig gegenüber zu treten. Ich sah dich nie wirklich, ich sah nur die überhöhte Gestalt, der du unmöglich entsprechen konntest. Es bleibt die Scham und die Trauer darüber, dass es so kommen musste, wie es kam. Doch es tut nicht mehr weh.

Du wirst diese Zeilen niemals lesen. In Wirklichkeit heißt du nicht einmal Emily. Ich habe deinen Namen geändert, denn ich will nicht, dass man dich erkennt, oder dass du dich selbst erkennst. Denn ehrlich gesagt wäre es mir ein wenig unangenehm, wenn du wüsstest, wie sehr ich noch in der Vergangenheit hänge. Doch was geschehen ist, ist geschehen, und ich kann es heute akzeptieren. Du warst ein Teil meines Lebens, und dafür bin ich dankbar. Wenn ich heute an dich zurückdenke, dann denke ich an die guten Zeiten. Und manchmal, aber nur manchmal, frage ich mich: denkst du manchmal auch an mich?